Die Gabelsberger Kurzschrift: Bei dieser Abschrift handelt es sich um einen Widerspruch von Hauptmann Friedrich „Fritz“ Haselmayr, den er im Jahre 1915 gegen die Anmerkungen seiner Vorgesetzten in seinem Qualifikationsbericht erhob. Manch‘ Soldat des Deutschen Heeres oder der Kaiserlich-Königlichen Armee, ob gehobener Dienstgrad oder Unteroffizier, verstand es, die Kurzschrift praktisch einzusetzen. Die Bayern oder Österreicher griffen hier gerne zur Gabelsberger Kurzschrift. Dieses altkursive, fließend wirkende System war im deutschen Sprachraum weit verbreitet und beliebt. Die Gabelsberger ermöglichte wie die anderen deutschen stenographischen Schriften einen deutlichen, zeit- und papiersparenden Schriftverkehr. Viele Regeln und Kürzel wurden bei der Vereinheitlichung der deutschen Kurzschriften (siehe Deutsche Einheitskurzschrift, kurz DEK) übernommen. Wieviel textlicher Inhalt auf ein Blatt Papier passte, soll dieses Beispiel zeigen:

Qualifikationsbericht über den Hauptmann und Baonsführer Friedrich Haselmayr.

Der frühere Kommandeur hat Hauptmann Haselmayr wie folgt beurteilt:

„Ein theoretisch vorzüglich durchgebildeter, praktisch sehr tüchtiger Offizier, der die Kompanie ausgezeichnet in der Hand hat und in der hinteren Hand weise für ihr Wohl gedacht ist. Leider sehr nervös und in diesem Zustand zu Widerspruch geneigt. Sonst unverändert. – / Einville 6.9.14, gezeichnet: Wölfel, Bataillonskommandeur. –

Hauptmann Haselmayr ist ein gut begabter, impulsiver, strebsamer und selbsttätiger Offizier, der über dem Durchschnitt steht. Er ist ein hoch ehrenwerter, verlässlicher Charakter. H. ist sehr beredt, im Schriftlichenist er ein ungemein rascher Arbeiter. – Im persönlichen Verkehr ist er gewandt und äusserst liebenswürdig. Taktisch hat er sehr gute theoretische Kenntnisse und auch gute praktische Anlagen. Mit besonderer Vorliebe und mit großem Geschick geht er an größere, denkbare Arbeiten wie Wahl von Stellungen, Erkundungen ausgedeckter feindlicher Stellungen und dergleichen heran. Hierin hat er schon Vorzügliches geleistet. – Auch was Führung anlangt, so zeigt er zweifellos klare und gesunde Gedanken und Ansichten, raschen und richtigen Anschluss. Die Durchführung wird ihm aber sichtbar schwer, weil ihm die Praxis fehlt (H. war von 1907-14 nur 1,5 Jahre bei der Truppe). Er neigt zu einem langatmigen, schematischen, schulmäßigen Aufbau. – Optimismus und Pessimismus wechseln im Lauf der gleichen Handlung unvermittelt. Er muss mehr dazwischen und unentwegt durchgreifen lernen. Das an sich sehr gute Gesamtbild von Hauptmann H. wird leider durch 2 Faktoren beeinträchtigt. Er ist, wie schon in früheren Jahren festgestellt wurde, immer noch sehr nervös. – Und dann ist er maßlos von sich eingenommen, überschätzt seine und seiner Truppe Leistungen bei jeder Gelegenheit in einer die Kompanie zurücksetzende Weise. In Zusammenhang mit seiner Selbstüberschätzung besteht eine ausgesprochene Neigung zur Willkür im dienstlichen Handeln, Bildung eines Partikularismus in seiner Truppe; Mangel an Einsicht, dass es ihm in der Praxis fehlt. Hauptmann H. ist offensichtlich bestrebt, für seine Truppe weitgehenst zu sorgen; dabei wird es ihm aber sehr schwer, die Chancen heraus zu finden, wo die Schonung[s-] Künste vor den taktischen Zügen stehen müssen. – Nach Veranlagung und theoretischem Wissen, die allgemeine Bildung ist Hauptmann Haselmayr zweifellos zum Baonsmajor geeignet. Es fehlt ihm aber noch die praktische Übung. Der Regimentsmajor darf sich durch Haselmayrs sicheres Auftreten nicht bestechen lassen, sondern muss allemal ein besonderes Augenmerk auf ihn richten, damit keine unliebsamen Überraschungen eintreten. Für besondere Verwendung kann ich Hauptmann Haselmayr, hauptsächlich in Hinblick auf seine derzeitige Nervosität nur im Etappendienst, bei einem Colonel Gouvernement, da im Eisenbahndienst, in dem er schon gearbeitet hat, befürworten. / Bailleul bei Arras, 23.1.15./ gez. Helbling. – 

Ich beschwere mich über die in meiner Beurteilung durch Herrn Oberst Helbling blau angestrichenen Stellen. Von der nach der Beschwerdeordnung angeordnete Lehr[er]mitteilung halte ich mich für benachteilt zu sehen, da eine nochmalige Änderung der Qualifikation und somit ein Ergebnis einer Lehr[er]mitteilung unmöglich ist.

Im Einzelnen beschwere ich mich:

zu a.) Ich glaube, dass Herr Oberst nicht einen einzigen Fall anführen kann, wo mir die Durchführung eines Entschlusses schwer gefallen ist, ganz besonders aber, wo bei mir Optimismus und Pessimismus überhaupt, ganz besonders aber unvermittelt in einer Handlung gewechselt haben. Ich denke immer von einer ruhigen Auffassung der Dinge, begleitet von einem bisher fest bewahrten Grund von Optimismus.

b) Die Bezeichnung: „maßlos von sich eingenommen“ empfand ich als ebenso unverdient als kränkend, auch den Vorwurf der Überschätzung der Leistungen meiner Truppe fand ich unverdient; ich habe Herrn Oberst einmal ausdrücklich versichert, dass ich die Leistung des Baons nicht höherwertig, sondern nur gleichwertig denen der anderen fand (gelegentlich nur Bitte um Ausgleich des Missverhältnisses in der Verleihung von Auszeichnungen an die Baone, don denen I. Btl. damals 120, II. Btl. 50 Eiserne Kreuze besaß.[)] – 

c.) Ich bin überzeugt, dass Herr Oberst in keinem Fall den mir gemachten Vorwurf dienstlicher Willkür mit Tatsachen belegen kann, sogleichen den Vorwurf der Schaffung eines Partikularismus; allerdings besitzt das Baon in mancher Behausung wie Kantine, Bad, Krankenstube bessere Einrichtungen als andere Baone, da dürften hierin immer Verschiedenheiten bestehen. Auf unlauterem Wege anderer eben nicht erlangt.

d) Herr Oberst bezeichnet mich in Übereinstimmung mit meinem 1. Baonskommandeur im Feldzug, Herrn Major Wölfel als „sehr nervös“ – dass dies bei mir schon „in früheren Jahren“ festgestellt wurde, dürfte nach meiner Kenntnis meiner früheren Qualifikationen nicht stimmen.

Nach Befragen meines Baonsarztes, der mich seit Beginn des Feldzuges ständig beobachten konnte, erklärt mich dieser Doktor als „mit einem Nerven-Tic“ behaftet, der auf einer rheumatischen Erkrankung eines Genickmuskels beruht, im übrigen entbehre ich die Haupteigenschaft „nervös [zu sein]“. Ärzte und Kameraden sagen mir im Gegenteil sehr gute Ruhe im Gefecht und in der Gefechtsführung nach. / Haselmayr

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Zufall? In einem Brief, den Haselmayr einen Monat zuvor seiner Frau nach München sendet, diesmal in seiner peniblen, üblichen Handschrift, spricht er Wölfel und Helbling exakt die gleichen Charaktereigenschaften zu, die ihm in seinem Qualifikationsbericht so säuerlich aufstossen:

Transkription:

„Und in der Führung unserer Gef. Bag. hapert es beim Rgt sehr. Dabei wäre es eigentlich Btls Sache u. ginge Oberstlt. Helbling, unseren Rgts Kdr, gar nichts an. Aber dieser ist ein außergewöhnlich selbstherrlicher, eingebildeter Mensch, der mehr schreibt als weiß (Vater von meinem Helbling, abgehauster Generalstabb). Wölfel ist im Gefecht sehr nervös, fast nie zu finden, geht immer mit der vorderen Linie gleich durch, was persönlich sehr tapfer ist aber halt, da er sein Btl. führen u. lenken soll, völlig falsch. Ich muß ihm immer wieder taktische Vorlesungen halten. Überhaupt hätte ein Taktiklehrer viel zu beanstanden. Aber ich gebe zu, im Kriege geht es eben nicht ideal, obwohl manches unschwer besser zu machen wäre. Also über unsern Herrn Rgt Kdr herrscht wenig Entzücken.“

09/20 Die Gabelsberger Kurzschrift – effizient und weit verbreitet