Um Ihnen die Schriften vergangener Tage ein wenig näher zu bringen und die verschiedenen Schriftstile vorzustellen, die im Laufe der Jahrhunderte verwendet wurden, stelle ich in diesem blog jeden Monat ein handgeschriebenes Dokument vor, möglichst aus unterschiedlichen Epochen. Dieses Jahr werde ich einmal versuchen, den Fokus ein wenig mehr auf die Schrift an sich zu lenken, auch wenn es schwer fällt, den textlichen Inhalt außen vor zu lassen. Von der üblichen Handschrift, wie wir sie heute kennen, bis hin zu einer Gabelsberger Kurzschrift aus dem 19. Jahrhundert soll hier vieles seinen Platz finden. Vielleicht weckt es ja Interesse oder hilft bei der Einordnung eigener Schriftstücke.
Im Gegensatz zu den Verwendern der alltäglichen Langschrift gewöhnten sich Stenografen nicht laufend neue oder veränderte Systeme an, solange sie nicht beruflich damit zu tun hatten. Das Stolze-Schrey-System war bereits 1897 aus der Stolze- und der Schrey-Kurzschrift zusammengeführt worden. Relativ schnell gewann dieses Einigungssystem Beliebtheit, weil es relativ einfach und logisch aufgebaut ist. Im Prinzip funktioniert dieses System ähnlich wie die Gabelsberger, lediglich die Zeichen der Konsonanten unterscheidet sich in Teilen und die Vokalanzeige wird anders gehandhabt. Allgemein wirkt die Stolze-Schrey nicht so geschwungen wie die Gabelsberger, was eben an den festgelegten Zeichen liegt. 1924 wurden genau diese beiden Systeme zur Deutschen Einheitskurzschrift zusammengeführt. In der Schweiz wird die Stolze-Schrey mit kleinen Änderungen bis dato angewendet.
Erich Mohr, Studienrat außer Dienst, schrieb 1942 noch in seiner gewohnten Stolze-Schrey, warum auch nicht. Mit seinen Freunden, die wie er in den 1900er – 10er Jahren studierten, konnte er in dieser Form wunderbar kommunizieren. Folgende Ganzsache, die er am 25.6.42 an den Theologen Theodor Siegfried nach Marburg schickte, ist ein schönes Beispiel, um den Unterschied von Stolze-Schrey und Gabelsberger bildhaft vorzustellen. Effektiv und platzsparend waren beide.
Inhaltlich vermisst man die sogenannte „christliche Nächstenliebe“. Was es für einen Berliner Mieter im Jahre 1942 bedeutete, innerhalb von 4 Tagen auf die Straße gesetzt zu werden, kann man sich nur schwer vorstellen. Schließlich standen die schwersten Bombenangriffe noch vor der Haustür. Ob es in diesem Sinne nötig war, im gleichen Atemzug auf eine ausfallende Miete für eine „Remise“ hinzuweisen, sei dahingestellt:
Lieber Theo, ich habe sowohl gestern wie heute versucht, dich telefonisch unter 3196 zu erreichen, aber keine Antwort bzw. Meldung Deines Anschlusses erreicht. Gestern rief mich Frau Kischko an und teilte mit, dass die Polizei sie aufgefordert habe, den Kohlenkeller unter dem Eingang und einen weiteren Raum zu räumen, damit der Luftschutzraum erweitert werden kann. Um die Kohle usw. aus diesen Kellern unterzubringen, haben sie sie aufgefordert, den Mietern der Remise entsprechend kurzfristig bis Sonnabend zu kündigen. Sie fragte an, was sie machen sollte. Ich sagte ihr, dass die Beschlagnahmung der Polizei anscheinend unwiderruflich und sofort angeordnet sei und dass sie der Aufforderung der Polizei nur sofort nachkommen solle, auch hinsichtlich der anderen Mieter. Einen anderen Weg sah ich nicht, sonst wäre ich mal hinten herausgefahren. Soweit ich mich entsinne, ist der anstehende Mietausfall von dem Staat zu erstatten. Ich hätte gern dies sofort mitgeteilt und Deine Zustimmung noch eingeholt. Aber Telefon hat wie gesagt leider versagt.
Für Deine beiden lieben Karten vom 8.4. und 25.5. danke ich Dir herzlich. Wie schnell die Zeit vergeht. Ich war bis kurz vor Pfingsten in München. Seit dem 8. bin ich wieder hier. Am 3.7. habe ich eine kurze Dienstreise nach Vorarlberg, Tirol und Steyermark. Anscheinend bin ich einen Tag in München. Am kommenden Sonntag bin ich mal in Guben, um alte Freunde dort zu besuchen. Ich bin froh, dass ich genügend auf dem Posten bin, um das alles durchzuhalten. Sonst geht es uns leidlich und den Verhältnissen entsprechend. Wie geht es Euch und vor allem Deiner Frau? / Herzliche Grüße, Euer Mohr
vorab zur Schrift, die uns allen geläufig sein dürfte. Im Jahre 1940 waren es besonders die jungen Studierenden, Fremdsprachler und Wissenschaftler, die sich dieser lateinischen Ausgangsschrift im Deutschen bedienten. Die Generation zuvor war mit der gebrochenen Kurrent vertraut, die Kinder in der Schule lernten noch die Sütterlin. Per Normschrifterlass vom 3. Januar 1941 wollte man dem ein Ende setzen. Wer es gewohnt war, seine Briefe in althergebrachter Handschrift zu verfassen, ob Soldat, Ministerialrat oder Sekretärin, musste umsatteln. Die Gleichschaltung, mit ihren tiefgreifenden Auswirkungen in nahezu alle Lebensbereiche, war in jenem Jahr schon fortgeschritten und brachte wesentlich dramatischere Folgen mit sich als oberflächliche, ungeübte Federzüge.
Dietrich Bonhoeffer, Mitglied der Bekennenden Kirche, sandte 1940 folgenden, unscheinbaren Brief an seinen Glaubensbruder Grosch ins Feld. Das Gemeindehaus in der Berliner Achenbachstraße war zu dieser Zeit schon lange ins Visier der Geheimen Staatspolizei gerückt. Flugblattverteilungen, anstößige Predigten, etc. wollte man nicht länger hinnehmen. Es gab viele Gemeinsamkeiten zwischen Grosch und Bonhoeffer: der Besuch des Walther-Rathenau-Gymnasiums in Berlin Grunewald, die Gemeindearbeit in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche und schließlich das persönliche Kennenlernen im Predigerseminar Finkenwalde. Unter dem Motto HAPAX, „ein für allemal“ arbeiteten sie mit vielen jungen Theologen wie Eberhard Bethge, Winfried Mauchler oder Albrecht Schoenherr zusammen. Man grenzte sich klar ab von den Deutschen Christen.
Gerhard Jacobi, in jenen Jahren Pfarrer der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, sah in Götz Grosch seinen Nachfolger. Man unternahm Rüstzeiten für Kinder und Jugendliche, nicht nur, um den evangelischen Glauben zu verbreiten, sondern um eine Alternative zu bieten. Rosemarie Streisand, Ilse Breier oder Hella Haßel, allesamt jüdischer Herkunft, besuchten diesen Montagskreis in Potsdam.
Die Einberufung war ein wirksames Mittel, um aufstrebenden Opportunismus zu zerschlagen. Götz Grosch, Otto Karl Lerche, Horst Thurmann, Karl Ferdinand Müller und viele andere junge Theologen, die sich beim Predigerseminar kennenlernten, wurden so räumlich und gedanklich getrennt. Einzig solche Dokumente können aufzeigen, wie sehr man bemüht war, auch in dunklen Zeiten einen Weg der Gemeinsamkeit zu finden.
Es ist eine schöne Begebenheit, dass der Nachlass Grosch, mit all seinen persönlichen Briefen und Dokumenten zur BK, neben dem Nachlass Dietrich Bonhoeffers Platz gefunden hat – dank eines offenen und geschichtsinteressierten Sammlers.
Da es sich um die gegenwärtig verwendete Schreibform handelt, überlasse ich zur Abwechslung Ihnen das „Transkribieren“ (mit Ausnahme des Schlusses). Ein schönes Beispiel, dass selbst die uns so gewohnte Schrift nicht immer einfach zu lesen und Übung gefragt ist.
… Aber Geduld werden wir alle in den nächsten Jahren, wie mir scheint, reichlich lernen müssen. „Lass doch Dein Licht, auslöschen nicht, bei uns allhier auf Erden.“ – In herzlicher brüderlicher Gemeinschaft grüßt Sie Ihr getreuer Dietrich Bonhoeffer
Die Gabelsberger Kurzschrift: Bei dieser Abschrift handelt es sich um einen Widerspruch von Hauptmann Friedrich „Fritz“ Haselmayr, den er im Jahre 1915 gegen die Anmerkungen seiner Vorgesetzten in seinem Qualifikationsbericht erhob. Manch‘ Soldat des Deutschen Heeres oder der Kaiserlich-Königlichen Armee, ob gehobener Dienstgrad oder Unteroffizier, verstand es, die Kurzschrift praktisch einzusetzen. Die Bayern oder Österreicher griffen hier gerne zur Gabelsberger Kurzschrift. Dieses altkursive, fließend wirkende System war im deutschen Sprachraum weit verbreitet und beliebt. Die Gabelsberger ermöglichte wie die anderen deutschen stenographischen Schriften einen deutlichen, zeit- und papiersparenden Schriftverkehr. Viele Regeln und Kürzel wurden bei der Vereinheitlichung der deutschen Kurzschriften (siehe Deutsche Einheitskurzschrift, kurz DEK) übernommen. Wieviel textlicher Inhalt auf ein Blatt Papier passte, soll dieses Beispiel zeigen:
Qualifikationsbericht über den Hauptmann und Baonsführer Friedrich Haselmayr.
Der frühere Kommandeur hat Hauptmann Haselmayr wie folgt beurteilt:
„Ein theoretisch vorzüglich durchgebildeter, praktisch sehr tüchtiger Offizier, der die Kompanie ausgezeichnet in der Hand hat und in der hinteren Hand weise für ihr Wohl gedacht ist. Leider sehr nervös und in diesem Zustand zu Widerspruch geneigt. Sonst unverändert. – / Einville 6.9.14, gezeichnet: Wölfel, Bataillonskommandeur. –
Hauptmann Haselmayr ist ein gut begabter, impulsiver, strebsamer und selbsttätiger Offizier, der über dem Durchschnitt steht. Er ist ein hoch ehrenwerter, verlässlicher Charakter. H. ist sehr beredt, im Schriftlichenist er ein ungemein rascher Arbeiter. – Im persönlichen Verkehr ist er gewandt und äusserst liebenswürdig. Taktisch hat er sehr gute theoretische Kenntnisse und auch gute praktische Anlagen. Mit besonderer Vorliebe und mit großem Geschick geht er an größere, denkbare Arbeiten wie Wahl von Stellungen, Erkundungen ausgedeckter feindlicher Stellungen und dergleichen heran. Hierin hat er schon Vorzügliches geleistet. – Auch was Führung anlangt, so zeigt er zweifellos klare und gesunde Gedanken und Ansichten, raschen und richtigen Anschluss. Die Durchführung wird ihm aber sichtbar schwer, weil ihm die Praxis fehlt (H. war von 1907-14 nur 1,5 Jahre bei der Truppe). Er neigt zu einem langatmigen, schematischen, schulmäßigen Aufbau. – Optimismus und Pessimismus wechseln im Lauf der gleichen Handlung unvermittelt. Er muss mehr dazwischen und unentwegt durchgreifen lernen. Das an sich sehr gute Gesamtbild von Hauptmann H. wird leider durch 2 Faktoren beeinträchtigt. Er ist, wie schon in früheren Jahren festgestellt wurde, immer noch sehr nervös. – Und dann ist er maßlos von sich eingenommen, überschätzt seine und seiner Truppe Leistungen bei jeder Gelegenheit in einer die Kompanie zurücksetzende Weise. In Zusammenhang mit seiner Selbstüberschätzung besteht eine ausgesprochene Neigung zur Willkür im dienstlichen Handeln, Bildung eines Partikularismus in seiner Truppe; Mangel an Einsicht, dass es ihm in der Praxis fehlt. Hauptmann H. ist offensichtlich bestrebt, für seine Truppe weitgehenst zu sorgen; dabei wird es ihm aber sehr schwer, die Chancen heraus zu finden, wo die Schonung[s-] Künste vor den taktischen Zügen stehen müssen. – Nach Veranlagung und theoretischem Wissen, die allgemeine Bildung ist Hauptmann Haselmayr zweifellos zum Baonsmajor geeignet. Es fehlt ihm aber noch die praktische Übung. Der Regimentsmajor darf sich durch Haselmayrs sicheres Auftreten nicht bestechen lassen, sondern muss allemal ein besonderes Augenmerk auf ihn richten, damit keine unliebsamen Überraschungen eintreten. Für besondere Verwendung kann ich Hauptmann Haselmayr, hauptsächlich in Hinblick auf seine derzeitige Nervosität nur im Etappendienst, bei einem Colonel Gouvernement, da im Eisenbahndienst, in dem er schon gearbeitet hat, befürworten. / Bailleul bei Arras, 23.1.15./ gez. Helbling. –
Ich beschwere mich über die in meiner Beurteilung durch Herrn Oberst Helbling blau angestrichenen Stellen. Von der nach der Beschwerdeordnung angeordnete Lehr[er]mitteilung halte ich mich für benachteilt zu sehen, da eine nochmalige Änderung der Qualifikation und somit ein Ergebnis einer Lehr[er]mitteilung unmöglich ist.
Im Einzelnen beschwere ich mich:
zu a.) Ich glaube, dass Herr Oberst nicht einen einzigen Fall anführen kann, wo mir die Durchführung eines Entschlusses schwer gefallen ist, ganz besonders aber, wo bei mir Optimismus und Pessimismus überhaupt, ganz besonders aber unvermittelt in einer Handlung gewechselt haben. Ich denke immer von einer ruhigen Auffassung der Dinge, begleitet von einem bisher fest bewahrten Grund von Optimismus.
b) Die Bezeichnung: „maßlos von sich eingenommen“ empfand ich als ebenso unverdient als kränkend, auch den Vorwurf der Überschätzung der Leistungen meiner Truppe fand ich unverdient; ich habe Herrn Oberst einmal ausdrücklich versichert, dass ich die Leistung des Baons nicht höherwertig, sondern nur gleichwertig denen der anderen fand (gelegentlich nur Bitte um Ausgleich des Missverhältnisses in der Verleihung von Auszeichnungen an die Baone, don denen I. Btl. damals 120, II. Btl. 50 Eiserne Kreuze besaß.[)] –
c.) Ich bin überzeugt, dass Herr Oberst in keinem Fall den mir gemachten Vorwurf dienstlicher Willkür mit Tatsachen belegen kann, sogleichen den Vorwurf der Schaffung eines Partikularismus; allerdings besitzt das Baon in mancher Behausung wie Kantine, Bad, Krankenstube bessere Einrichtungen als andere Baone, da dürften hierin immer Verschiedenheiten bestehen. Auf unlauterem Wege anderer eben nicht erlangt.
d) Herr Oberst bezeichnet mich in Übereinstimmung mit meinem 1. Baonskommandeur im Feldzug, Herrn Major Wölfel als „sehr nervös“ – dass dies bei mir schon „in früheren Jahren“ festgestellt wurde, dürfte nach meiner Kenntnis meiner früheren Qualifikationen nicht stimmen.
Nach Befragen meines Baonsarztes, der mich seit Beginn des Feldzuges ständig beobachten konnte, erklärt mich dieser Doktor als „mit einem Nerven-Tic“ behaftet, der auf einer rheumatischen Erkrankung eines Genickmuskels beruht, im übrigen entbehre ich die Haupteigenschaft „nervös [zu sein]“. Ärzte und Kameraden sagen mir im Gegenteil sehr gute Ruhe im Gefecht und in der Gefechtsführung nach. / Haselmayr
Zufall? In einem Brief, den Haselmayr einen Monat zuvor seiner Frau nach München sendet, diesmal in seiner peniblen, üblichen Handschrift, spricht er Wölfel und Helbling exakt die gleichen Charaktereigenschaften zu, die ihm in seinem Qualifikationsbericht so säuerlich aufstossen:
Transkription:
„Und in der Führung unserer Gef. Bag. hapert es beim Rgt sehr. Dabei wäre es eigentlich Btls Sache u. ginge Oberstlt. Helbling, unseren Rgts Kdr, gar nichts an. Aber dieser ist ein außergewöhnlich selbstherrlicher, eingebildeter Mensch, der mehr schreibt als weiß (Vater von meinem Helbling, abgehauster Generalstabb). Wölfel ist im Gefecht sehr nervös, fast nie zu finden, geht immer mit der vorderen Linie gleich durch, was persönlich sehr tapfer ist aber halt, da er sein Btl. führen u. lenken soll, völlig falsch. Ich muß ihm immer wieder taktische Vorlesungen halten. Überhaupt hätte ein Taktiklehrer viel zu beanstanden. Aber ich gebe zu, im Kriege geht es eben nicht ideal, obwohl manches unschwer besser zu machen wäre. Also über unsern Herrn Rgt Kdr herrscht wenig Entzücken.“
Mit ein wenig Verspätung stelle ich heute einmal die DEK (Deutsche Einheitskurzschrift) vor. Ein guter Start, denn sie ist gegenwärtig das geläufigste System im deutschsprachigen Raum und kann als Zusammenfassung der Gabelsberger und Stolze-Schrey Kurzschriften gesehen werden. Für das ungeübte Auge sind diese Kurzschriften nicht leicht auseinander zu halten, mit ein wenig Allgemeinwissen ist das aber ganz gut möglich. Da bei dieser Schrift die Vokale meist nur durch lange oder kurze, normale oder verstärkte, nach unten oder oben verlaufende Verbindungen von Konsonanten dargestellt werden und eine Vielzahl von Kürzeln verwendet wird, die sinngemäß ein komplettes Wort ergeben, verkürzt sich der Text schon einmal um ein ganzes Stückchen. Durch weitere „Einsparungsmaßnahmen“ wie z. B. nicht ausgeschriebene Doppelkonsonanten oder verkürzte Vor- und Nachsilben minimiert sich der handgeschriebene Text noch weiter. Nimmt man zum Beispiel das Wort „Männer“, dann wird bei der DEK im eigentlichen Sinne „Mener“ geschrieben. Durch die Darstellung des Vokals „e“ als normale Verbindung zwischen den Konsonanten schreibt man im Endeffekt nur die Buchstaben „Mnr“ aus. Anders als bei der üblichen Schreibschrift stehen einem bei diesem System vier (gedachte) horizontale Linien zur Verfügung. Dieses ausgeklügelte System ist ein perfektes Instrument und ermöglicht eine äußerst schnelle und genaue Aufzeichnung.
Ohne jetzt noch weiter auf Einzelheiten einzugehen, hier einmal ein Beispiel der DEK, wie sie von Josef Kimmig im Jahre 1952 als Briefkonzept verfasst wurde:
Transkription:
durchgestrichen: Ihren Brief v. 29. Sept. haben wir erhalten und uns darüber sehr gefreut. Leider war es mir infolge Erkrankung nicht möglich, Ihnen sofort darauf zu antworten. Es kommt sonst nicht sehr häufig vor, daß jemand für ein Notquartier noch in einem besonderen Brief dankt. Ich weiß daher Ihr Dankschreiben schon recht zu schätzen. Sie haben sich dadurch als ein Mensch von edler Gesinnung erwiesen. Wie Sie es machen ist es die beste Art, für den Frieden und die Verständigung zu wirken. Und aus der Not unserer Zeit einen Weg in eine bessere Zukunft zu finden.
neu verfasste Einleitung: Ihren Brief v. 29. 9. haben wir erhalten, und wir haben uns darüber sehr gefreut. Leider war ich um diese Zeit erkrankt und so komme ich erst heute dazu, Ihnen für Ihren sehr lieben Brief zu danken. Es war für uns ja eine Selbstverständlichkeit, Ihnen in Ihrer Notlage behilflich zu sein, als Sie uns sagten, daß Sie ein auf Ferienfahrt befindlicher belgischer Student seien. Im Stillen haben wir auch daran gedacht, daß das belgische Volk im Zweiten Weltkrieg [seitens] unseres Volkes sehr viel Schweres und Bitteres erdulden mußte. In solcher Betrachtung wird unsere Hilfe nur eine kleine Geste der Menschlichkeit sein, die bekunden sollte, daß wir als Menschen und Priester für einander verantwortlich und einander in den vielfältigen Nöten des Daseins beizustehen haben, ganz gleich, welche Sprache wir als unsere Muttersprache sprechen. In den kurzen Gesprächen, welche ich mit Ihnen zu führen die Gelegenheit hatte, zeigte es sich, daß auch Sie sehr unvoreingenommen und jenseits aller nationalen Engstirnigkeiten über eine Tragödie in Europa und das Problem des Weltfriedens denken und auch Sie sich für das Ziel der Völkerverständigung einsetzen, und das hat uns sehr sehr gefreut. Jetzt werden Sie wohl an der berühmten Universität Löwen studieren. Wir wünschen Ihnen von Herzen recht guten Erfolg hierzu, sollte das Schicksal jemanden von uns einmal nach Belgien führen, dann wird es uns eine Freude sein, unsere persönliche Bekanntschaft zu erneuern. Meine Eltern und Geschwister lassen Sie recht herzlich grüßen, nicht minder Ihr …
Das neue Jahr beginnt mit einem Brief aus der interessanten Korrespondenz von Johannes Geller aus Neuss, der als Kunstmäzen und Initiator der Gesellschaft zur Förderung der Kunst des 20. Jahrhunderts nicht nur Kontakte zu etlichen Kunsthistorikern pflegte, sondern sich gerade in Zeiten des 1. Weltkriegs darum bemühte, die Verbindungen zu seinen Freunden und Künstlern nicht abreißen zu lassen, welche größtenteils als Soldaten im Einsatz waren. Heinrich Nauen machte in diesem Brief vom 04.12.1914 deutlich, wie er persönlich zum Thema „Krieg“ und den damaligen Verhältnissen stand, insbesondere hinsichtlich der Kunst. Der beigefügte Zeitungsartikel verdeutlicht das ganz gut. Seine Schrift scheint den Charakter glänzend widerzuspiegeln. Eine eigenwillige, fließende, nahezu malerische Handschrift, die Platz benötigt. Es ist eine schöne Begebenheit, dass die Korrespondenz von Johannes Geller im Jahre 2015 in den Räumlichkeiten des Stadtarchiv Neuss zusammengeführt werden konnte. Dies ist nur einer von zahlreichen Briefen Heinrich Nauens, die seinen Freund J. Geller zwischen 1913-1921 in Neuss erreichten.
Brüggen (Rheinland)/ Lieber Herr Geller. Der beiliegende Artikel wird Sie interessieren und ich freue mich, daß man auch jetzt schon anfängt keinen falschen Begriff des künstlerischen Schaffens aufkommen zu lassen, denn wehe, und Sie wissen was ich schon früher aussprach: ein sieghaftes Volk giebt den kleinen Gernegrößen ein zu bequemes Sprungbrett und ein warmes Bett falscher Deutschtümmelei. Was nun vorläufig zu thun nötig ist, ist alles andere wie Kunst, retten wir erst die Lebenswerte, die in unserem Volke stecken, denn das ist der einzige Boden darauf wir aufbauen können.
Ich reise am Samstag nach Rostock und stehe am Montag früh als Kriegsfreiwilliger auf dem Kasernenhof. Ein Zusammensein mit Ihnen hat sich leider nicht mehr ermöglichen lassen, vielleicht gelingt es vor meiner Abreise zur Front Urlaub zu erhalten und dann werde ich Sie sehen. Sie waren damals so liebenswürdig in der Angelegenheit mit Fl. [vertragliche Verbindlichkeiten mit dem Galeristen Alfred Flechtheim] meine Interessen in Händen zu nehmen und nun erhalten Sie auch noch das Übrige für den Fall, daß ich nicht zurückkomme. Ich lasse Ihnen die Papiere später von Rostock aus zukommen, ein paar Wochen frische Luft geben mir mehr Klarheit. Von Gosebruch [Kunsthistoriker Ernst Gosebruch] erhielt ich beiliegenden Brief. Mit seinem Vorschlag bin ich sehr zufrieden. Nur verstehe ich nicht, daß er die neuen Arbeiten dem älteren Bild von Fischer [Architekt und Kunstsammler Alfred Fischer] nicht den Vorzug giebt. Vielleicht hat er Recht, vielleicht war die Spannung meines Lebens der Arbeit nicht günstig.
Sie wissen wie schwer es mir fällt den Weg zu finden, der zu einer Befriedigung führt als Ausdruck meiner Kunst. Ich sehe nur, wie billig sich andere Künstler schonungslos über alles Zufällige hinwegsetzen und Anerkennung ernten für ihren Mangel an wirklichem Können. Originell sein in Halbwüchsigkeit ist keine Kunst, das verstehen primitive Menschen und vor allem Kinder noch besser. Aber sehen Sie, Gosebruch spricht mit keinem Wort von dem Bildnis was ich von Heckel [Künstler Erich Heckel] gemalt habe, und vielleicht, oder besser gesagt, ist dieses Bild viel wertvoller als was er sonst von jungen Künstlern in seiner Galerie hat. Glauben Sie mir, eine spätere Zeit wird alles fortwischen was keine Kraft in sich hat und Kraft hat nur etwas was vollendet in sich ist. Wenn man Mangel an Gefühl durch Rohheit hinstreicht ist das gewiß sehr originell, und ich bin dann immer erstaunt, wie anspruchslos wir der Kunst gegenüber geworden sind.
Bitte schreiben Sie mir ein Wort, wenn Sie in Essen gewesen sind. Meine Adresse: Frau von Malackowski, Rostock, St. Georgstaße 107. Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus, Ihr ergebener H. Nauen